Poetry in Motion (Marylebone Journal, Feb/März 2020)
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Das Journal besucht das Londoner Designstudio von Poetry, einer Modemarke mit Vorliebe für Langsamkeit – in einer Zeit, die von Geschwindigkeit besessenen ist
TEXT: LAUREN BRAVO
Alles beginnt mit dem Stoff. Noch nie zuvor habe ich ein Leinenhemd oder wahrscheinlich irgendein anderes Hemd so intensiv betrachtet. Ich habe Zeit meines Lebens schon viele Samthosen gestreichelt, verstehen Sie mich nicht falsch, aber noch nie von der hervorragenden Kette und dem Schuss einer Hanf-Jersey-Mischung geschwärmt oder eine extrabreite Knopfleiste bewundert. Es ist so – ich stehe unter dem Einfluss von Poetry – nein, keine Freiformverse, sondern ihr textiles Äquivalent, dem Neuzugang in der Marylebone High Street.
Tatsächlich ist Poetry überhaupt nicht „neu“: Die Damenbekleidungsmarke hat über zwei Jahrzehnte Erfahrung als Katalog- und E-Commerce-Linie und gewinnt mit ihrer elegant zurückhaltenden Ästhetik immer mehr treue Fans in Großbritannien, den USA und Deutschland. Dennoch hat es Jahre gedauert, bis sie tatsächlich den Vorstoß wagte und ein Ladengeschäft eröffnete. Es begann mit den ersten Poetry-Läden in der Symons Street in Chelsea eröffneten im Jahr 2016 – und jetzt, etwas mehr als drei Jahre später, ist sie nach Marylebone gekommen. „Unser Prozess war schon immer langsam“, lacht Gründer Luke Dashper im Studio der Marke in Putney. „Wir befinden uns in einer anderen Welt als die schnelle Mode.“
Im Gegensatz zu den großen Handelsketten, die die Kleidung in wenigen Tagen vom Reißbrett in den Laden bringen können, ist Geduld hier eine Tugend. „Gut Ding will Weile haben“, sagt er und führt mich durch den lichtdurchfluteten, mit Mustern und Skizzen übersäten Raum. „Sie würden nicht glauben wie viel Zeit es braucht, wenn man jedes Detail überdenkt. Wir sitzen stundenlang zusammen, analysieren Stoffe und diskutieren über Blautöne.“
Diese Bereitschaft, in einem anderen Tempo zu arbeiten als der Großteil der Branche, verleiht Poetry ein sehr zeitgemäßes Verkaufsargument: Nachhaltigkeit. Es geht nichts über einen Anflug von Öko-Angst, dem brandneuen Outfit den Glanz zu nehmen – aber an diesem Punkt lassen sich die Fakten nur schwer ignorieren. Die globale Textilindustrie produziert 1,2 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr, ein Kohlenstoff-Fußabdruck, der größer ist als der des zivilen Flugverkehrs und der Seeschifffahrt zusammen. Jedes Jahr landen allein in Großbritannien 300.000 Tonnen Kleidung auf der Mülldeponie – oft kaum genutzt, denn heutzutage wird ein Kleidungsstück durchschnittlich nur noch sieben Mal getragen.
Am Ende vieler komplexer und schwerfälliger Lieferketten finden sich Armutslöhne, unmenschliche Arbeitsbedingungen und sogar moderne Sklaverei. Und obwohl es die billigsten Marken sind, die am meisten unter die Lupe genommen werden, kauft man sich auch bei einem höheren Preis nicht von der Schuld frei.
Hochwertige Mode ist oft nicht ethischer als ihre günstigen Pendants. Der jährliche Fashion Transparency Index der Interessensgruppe Fashion Revolution listet High-End-Labels wie Chanel und Max Mara neben Matalan und River Island als einige der schlimmsten Missetäter auf. Tatsächlich sind es verwirrende Zeiten für alle Modefans, in denen viele Marken sich überschlagen, um „bewusste“ Kollektionen anzukündigen und grandiose Versprechen abzugeben, es besser zu machen – ohne diese Versprechen auch einzulösen. „Es ärgert mich ein bisschen, wenn ich Modeunternehmen sehe, die nicht nachhaltig sind, die dann aber einen Bio-Stoff herstellen, und sagen, dass sie es wären", sagt Luke. „Viele Leute werfen nur mit Begriffen um sich.“
Dennoch ist es keine leichte Aufgabe, Kleidung herzustellen, die nur minimale Auswirkungen auf den Planeten hat, vor allem, wenn man möchte, dass sie auch modisch einflussreich ist. Die Kleidungsstücke von Poetry sind alle aus Naturfasern hergestellt, hauptsächlich aus Leinen, Hanf, Bio-Baumwolle und dem umweltfreundlichen Lieblingsmaterial Tencel. Die Marke ist nun dabei, ihre gesamte Viskose auf EcoVero umzustellen, ein nachhaltigeres, rückverfolgbares Material, das aus Holzzellstoff hergestellt wird, welcher aus verantwortungsvoll bewirtschafteten Wäldern stammt. Die Bestellungen werden in Pappkartons und nicht in Tüten verschickt, und dank kleiner Produktionsserien wird die Kleidung nie auf einer Deponie landen.
Aber Luke betont, dass es immer noch mehr zu tun gibt – wie die Abschaffung von Plastiktüten und Kleiderbügeln aus ihrem Lager – und dass das wachsende Interesse der Kunden an Rückverfolgbarkeit und Ethik die Marke auf Trab hält. „Ich glaube, auf einmal sind wirklich alle umweltbewusst. Sicherlich in meinem Umfeld. Ich kann kein Gemüse mehr kaufen, das in Plastik verpackt ist", sagt er.
Dennoch gibt er zu, dass die Kleidung von Poetry in gewisser Weise zufällig nachhaltig ist. „Wenn ich ehrlich bin, haben wir Hanf nicht deshalb verwendet, weil er gut für den Planeten ist, sondern weil es ein schöner Stoff ist, aus dem sich schöne Kleidungsstücke herstellen lassen. Das war schon immer mein Ausgangspunkt: Was macht schöne Kleidung aus?“ Er glaubt daran, dass wenn man sich darauf konzentriert, das bestmögliche Kleidungsstück zu entwerfen, „sich der Rest von selbst fügt".
Luke ist seit seiner Jugend besessen von schöner Kleidung. „Früher habe ich mein ganzes Geld für einen Pullover ausgegeben“, sagt er. Unter dem Einfluss einer umweltbewussten Mutter („Ihre Philosophie war: ,Einmal kaufen, gut kaufen.‘“) und eines unternehmerischen Vaters, der eine Textilfirma in Loughborough betrieb, verließ er einen Job im Finanz- und Logistikbereich, um Poetry zu gründen – ohne jegliche Mode- oder Designausbildung. „Ich habe noch nie ein Kleid gezeichnet“, gibt er zu. „Aber ich habe gelernt, indem ich gute Leute eingestellt habe und dann durch Erfahrung.“
Zwei Jahrzehnte später ist das Poetry Team immer noch klein und fokussiert. Im Studio der Marke arbeiten nur 14 Personen, dazu gibt es ein Lager und ein Betriebsteam in Leicester, das von Lukes Frau Hannah geleitet wird. Dann sind da noch die Fabriken, meist kleine, inhabergeführte Unternehmen in China, Hongkong und Rumänien, die Luke regelmäßig besucht. Aber nun könnten wir fragen, ob ein „Made in China“-Label wirklich als nachhaltig angesehen werden kann. Sollte nicht auch hier produziert werden? „Es gibt einfach keine Möglichkeit auf der Welt, dass dieses Kleidungssortiment in Großbritannien hergestellt werden könnte“, sagt er. „Es gibt keine Fabriken, sie existieren einfach nicht.“
Vor langer Zeit taten sie das einmal. In den 1970er Jahren boomte die britische Textilindustrie. Britische Marken wie Viyella, Daks Simpson und John Smedley statteten die Nation komfortabel aus, und spezialisierte Fabriken beschäftigten rund eine Million Facharbeiter im ganzen Land. Zur Jahrtausendwende kam es jedoch zu einem Massenexodus, da der Großteil der westlichen Bekleidungsproduktion verlagert wurde, vor allem nach Süd- und Ostasien, ein Prozess, der als „Jagd nach der billigsten Nadel auf der ganzen Welt“ bekannt ist.
Langsam wendet sich das Blatt wieder, mit einem kleinen Aufschwung in der britischen Fertigung – Jaeger, John Lewis und Clarks haben hier neue Fabriken eröffnet. Doch vorerst ist Poetry stolz auf seine internationalen Lieferanten, eine Liste, die italienische Wolle, chinesische Seide und peruanisches Alpakagarn umfasst. „Die besten Lieferanten für ein bestimmtes Material sind in der Regel diejenigen, die dort angesiedelt sind, wo das Material eine lange Geschichte hat und Teil der Kultur ist“, heißt es im Markenmanifest. Eine multikulturelle Mischung, die zudem den Geburtsort der Marke widerspiegelt. „Ich würde sagen, wir sind eher eine Londoner als eine britische Marke. Unser Look ist nicht traditionell, es sind keine Tweed-Jacken oder Guernsey-Pullover. Es ist viel zeitgemäßer“, sagt Luke. In einem Umfeld, in dem das Wort „Luxus“ alles bedeuten kann, von Hochglanz-Labels bis hin zu Schlagsahne auf heißer Schokolade, ist er sich seiner persönlichen Definition bewusst. „Nicht Luxus, der sich schick macht, sondern bequemer Luxus. Kleidung, die sich angenehm trägt.“
Die Silhouetten von Poetry sind großzügig geschnitten, aber nicht in einer Art und Weise, wie es nur an skandinavischen Architekten gut aussieht. Die Farben sind ebenso zurückhaltend – man spricht von „graustichig, subtil, gedämpft“ – mit einer harmonischen Palette, die sich von Jahreszeit zu Jahreszeit weiterentwickelt, aber selten in den Bereich des Knalligen, Schrillen oder Grellen vordringt. Und wie sieht es mit (*flüsternd*) Trends aus? „Einige Marken diktieren ihren Kunden Trends, während unsere Kunden einen Standpunkt, eine etablierte Ästhetik haben“, sagt Luke. „Sie wissen, was ihnen gefällt. Zu verstehen, was sie wollen, ist für uns wichtiger als das, was in dieser Saison über den Laufsteg kommt. Es sind Kleidungsstücke, um die herum unsere Kunden ihre Garderobe aufbauen und die sie lange tragen“. Er hält inne. „Leider“.
Schnelllebige Modeerscheinungen mögen das Gegenteil von Poetrys Philosophie der langen Tragbarkeit sein, aber machen Sie nicht den Fehler zu glauben, die Marke sei anti-modisch. „Wir beackern unsere eigene Furche, aber wir existieren nicht in einer Blase“, fügt er hinzu. „Wir machen nicht in ,klassisch‘. Nichts, was wir tun, ist klassisch. Wenn wir zum Beispiel einen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt entwerfen, dann ist er etwas oversized und hat überschnittene Schultern.“
Die Marke zielt auch nicht auf die Unterstützung durch Prominente ab („Meryl Streep vielleicht?“) oder jagt bestimmten Demographien hinterher. „Es ist interessant, wir sprechen nie über das Alter der Kunden“, sagt Luke. „Letzte Woche hatten wir im Geschäft in Marylebone eine Frau über 20 und eine Frau über 60, die beide zur gleichen Zeit Kleider anprobierten.“ Luke ist der Meinung, dass Einstellung und Lebensstil eine viel größere Bedeutung haben. „Wenn wir anfangen würden, Kleidung für ,ältere Menschen‘ zu entwerfen, würden sie definitiv aufhören, bei uns einzukaufen. Niemand will das.“
Was sie wollen, ist eine angenehme Einkaufserfahrung. Im Zeitalter des gedankenlosen Scrollens und der One-Click-Käufe dient die haptische Realität eines echten Geschäfts zwei Zwecken: neue Kunden an Poetry heranzuführen und als eine Art Pilgerstätte für die bestehenden Versandhandelsfans der Marke. „Es macht absolut Sinn, einen Einzelhandel zu haben“, sagt Luke. „Ich glaube an Erfahrungen in der realen Welt, an soziale Kontakte und die Interaktion mit anderen Menschen. Wir stellen Kleidung aus schönen Stoffen her, und es geht nichts über das Berühren und Fühlen des echten Stücks.“
Wie sollen sich die Menschen fühlen, wenn sie einen Poetry Laden betreten? „Sehr ruhig, sehr wohl und entspannt“, sagt er. Da ist die warme, Ton in Ton gehaltene Farbpalette. Die kunstvoll sanfte Beleuchtung. Die frischen Arrangements des Floristen Rob Van Helden. Hier gibt es keine aufdringlichen Verkaufstaktiken oder die „Niesen Sie und Sie sind tot“-Anspannung einiger High-End-Boutiquen. Poetry möchte, dass Sie mit den Kleidern ganz nah auf Tuchfühlung gehen. „In den Geschäften geht es nicht darum, die Anzahl der Verkäufe pro Tag und Quadratmeter zu maximieren. Sie sind Teil der ganzen Beziehung.“
Zur Vervollständigung des Einkaufserlebnisses in den Geschäften hat die Marke einen „Poetry nach Vereinbarung" - Service, bei dem die Kunden online einen Einkaufstermin buchen und die Kleidung, die sie anprobieren möchten, vorab anfordern können, so dass sie garantiert die richtigen Artikel und die richtige Größe erhalten (im Gegensatz zu den meisten nachhaltig ausgerichteten Marken, ist die Kleidung von Poetry bis zur Konfektionsgröße 48 erhältlich). Es besteht keine Verpflichtung, alles zu kaufen, was man probiert. Kundentreue zu gewinnen ist, genau wie gute Kleidung herzustellen, ein langer Prozess.
Und er zahlt sich aus. „Wann immer ich eine Aufmunterung brauche, gehe ich einfach auf unsere Website und lese die Rezensionen“, sagt Luke. „Oft lese ich Rezensionen, in denen die Leute sagen: ,Danke Poetry, ich bin so froh, dass ich euch gefunden habe‘. Das ist eine emotionale Sache. Es geht nicht nur darum, dass die Menschen warm und gut gekleidet sind. Wenn Ihnen Ihre Kleidung gefällt, fühlen Sie sich besser in Ihrer Haut. Man fühlt sich gut.“